MENSCHEN & MEER
Travemünde 03.09.2008
»Die Klasse ist die Heimat«
Margot Aßmann zeigt ihrer Obertertia von 1943 Travemünde

Als der Brotbeutel alle ist, helfen Soldaten mit rohem Speck und Schnaps, der wärmt. Wenn ein Platz auf einem offenen LKW frei ist, nehmen die Soldaten auch Flüchtlinge mit. Viele andere müssen zu Fuß über das Haff. Margot Aßmann wundert sich, dass es dennoch so viele geschafft haben. Eine Woche lang kann sie sich nicht umkleiden. Als es mit der Fähre über die Weichsel geht, ducken sich alle, die Russen halten rein in die Trecks, heißt es. Am 8. April 1945 landet die Familie in der Nähe von Braunschweig, wo Verwandte leben.
Das Klassenfoto von ihrer Obertertia, von der Schule, die eine der modernsten in Ostpreußen war, 1929 gebaut und heute noch gut aussieht, behält Margot Aßmann über die Jahrzehnte, die nun folgen. Als die Mauer fällt, bemüht sich ein Klassenkamerad aus der DDR, die Klasse wieder zusammenzubringen. 1991 treffen sich die Schüler zum ersten Mal in Ost-Berlin. Seitdem sehen sie sich jedes Jahr, immer woanders, um Deutschland kennen zu lernen. 1993 fahren alle noch einmal nach Ostpreußen, stellen sich an derselben Stelle zum Klassenfoto auf, wo genau 50 Jahre zuvor das erste Bild entstanden ist. Dann inspizieren sie ihre alte Schule, vom Erdgeschoss bis zum Dachboden, setzen sich auf die Bänke in den Klassenräumen.
Als Margot Aßmanns Wohnung in Braunschweig renoviert werden soll, muss sie vorübergehend ausziehen. Freunde aus Travemünde raten ihr: »Zieh doch gleich nach Travemünde, du hast hier viel mehr Lebensqualität.« Sie macht sich auf Wohnungssuche im Ostseebad, telefoniert, findet nichts, will schon wieder zurück nach Braunschweig. Als sich die Türe der letzten Wohnung, die sie besichtigt, öffnet, sieht sie durchs Wohnzimmerfenster die Schiffe auf der Trave und bleibt. Seit Januar 2007 ist Margot Aßmann Travemünderin, nun will sie ihrer Obertertia das Städtchen zeigen.
Das Klassenfoto von 1943 zeigt 42 Schüler, 25 waren letztes Jahr beim Treffen dabei, diesmal werden wohl 20 kommen. Mit der Könemann-Linie werden sie am 18. September 2008 von Lübeck nach Travemünde fahren, Margot Aßmann zeigt ihnen die Vorderreihe, den Fischereihafen, die Altstadt mit der Kirche, das Seebadmuseum und die Alte Vogtei. Dann Kaffeetrinken im Rosenhof. Margot Aßmann ist in Masuren aufgewachsen, hat über 50 Jahre in Braunschweig gelebt, nun in Travemünde. Heimat ist für sie nicht ein bestimmter Ort. »Die Klasse ist die Heimat«, sagt sie. Nächstes Jahr werden die meisten ihren 80. Geburtstag feiern. Vielleicht, überlegt sie, ist dies jetzt das letzte Klassentreffen. HN