ORTSGESCHEHEN
Travemünde 13.11.2022
Verheerende Sturmflut in Travemünde vor 150 Jahren
In der Nacht auf den 13. November 1872 lag der Pegel 3,30 Meter über N.N.
In der Zeit vom 01. November bis zum 10. November 1872 beeinflusste saisonal durchaus üblicher langanhaltender starker Wind aus südwestlicher Richtung die Ostseeküste rund um Travemünde und die Lübecker Bucht derart, dass die Wassermassen der Ostsee zunächst in Richtung Nordosten schwappten, also gewissermaßen weg von den Stränden der Lübecker Bucht. Parallel dazu entstanden durch diese über längere Zeit vorherrschende Windrichtung Fluten an der Nordsee, die wiederum ihrerseits bis weit in die westliche Ostsee vordrangen. In der Nacht vom 12. auf den 13. November 1872 schlug der Wind allerdings plötzlich und ebenso schlagartig um, sodass sich aus dem bereits einige Tag lang andauernden Sturm aus Südwest nunmehr ein ausgewachsener Orkan aus Nordwest mit extremen Windgeschwindigkeiten entwickelte. Dadurch entstand ein sogenannter Badewanneneffekt, zumal das Wasser der Ostsee selbst nun stark zurückflutete, optisch vereinfacht und veranschaulicht vergleichbar wie bei einer angehobenen gefüllten Badewanne. Die Wassermassen konnten somit nur langsam in die Nordsee abfließen, sodass es zu einer Stausituation kam. Zwischen den Küstenorten von Eckernförde bis nach Usedom wurden vielerorts Pegelstände von mehr als 3,30 Meter über N.N. gemessen, so auch in Travemünde.

Im unmittelbaren Zentrum dieser Katastrophe lagen allerdings viele Küstenorte der Lübecker Bucht. Sierksdorf, Haffkrug, Scharbeutz und Niendorf verfügten vor 150 Jahren über keine heute üblichen Standards des Küstenschutzes und wurden folglich nahezu vollständig überschwemmt. Neun Menschen ließen in der Katastrophennacht rund um die Lübecker Bucht ihr Leben, davon allein fünf Einwohner von Scharbeutz. In Haffkrug und Sierksdorf kam es zu schwersten Beschädigungen an ungefähr 20 Häusern, ebenso im Travemünde benachbart liegenden damaligen Fischerdorf Niendorf, das aufgrund der flachen und somit ungeschützten Nehrungslage zwischen Ostsee und Hemmelsdorfer See komplett von den Wassermassen überflutet wurde. Dort fanden allein vier Menschen in der Nacht der Sturmflut den Tod. Zwölf Wohnhäuser wurden völlig zerstört. Weitere 14 Häuser wurden schwer beschädigt. Etwa 38 Familien mit insgesamt 138 Personen wurden schlagartig obdachlos. Der sonst so kleine Fluß Aalbek entwickelte sich zu einem reißenden Strom, da die Wassermassen sich ihren Weg in den Hemmelsdorfer See bahnten. Sogar noch bis fast 80 Jahre später waren die Folgen der Flut auch dort zu spüren, da der Salzgehalt des Hemmelsdorfer Sees schlagartig infolge der Flut anstieg, und erst in den 1950er Jahren wieder auf ein vergleichbares Niveau vor der Flutkatastrophe absank.
In Travemünde gab es im ungeschützten Küstenbereich ebenfalls verheerende Zerstörungen an zahlreichen Gebäuden. Infolge des Hochwassers hatte der Ort insgesamt 31 Tote zu beklagen, Badeanlagen wurden stark beschädigt und am Brodtener Steilufer kam es zu erheblichen Abbrüchen. Und auch auf See waren die Auswirkungen der Sturmflutnacht mehr als sicht- und spürbar: Insgesamt 14 Schiffe, die den Travemünder Hafen schutzsuchend vor dem Orkan anliefen, strandeten vor dem Ort sowie auf dem Priwall. Wie prägend das Sturmhochwasser neben den zahllosen Opfern und Wohnungslosen die Travemündung und ihren weiteren Verlauf flußaufwärts bis weit nach Lübeck selbst in Mitleidenschaft zog, lässt sich daran festmachen, dass sämtliche Straßenzüge der Unter- und Obertrave in Lübeck etwa bis zu einem Meter hoch unter Wasser standen.
TA