MENSCHEN & MEER
Travemünde 03.10.2019
Flucht mit der S-Bahn
Zeitzeuge vom Priwall erinnert sich an seine Flucht aus der DDR
»Ich war als anerkannter Spitzensportler der DDR eine Persönlichkeit. Ich brauchte eigentlich nicht fliehen«, sagt Klaus-Dieter Berger. Vielleicht war es jugendliche Abenteuerlust, vielleicht auch einfach der Trend: In seiner Straße in der Altstadt von Greifswald, erzählt er, waren sie 13 Jungs. Nur einer davon blieb. »Das kann auf Dauer kein Staat ab«, sagt der frühere Fußballspieler. Auch er ging in den Westen. »Das war im Jahre 1955«, erinnert er sich.
Da viele Menschen den Fußballer der DDR-Liga kannten, war es dem damals 19-jährigen zu gefährlich, in seiner Heimatstadt Greifswald in den Zug zu steigen. Das hätte vielleicht verdächtig ausgesehen, wenn er morgens um fünf die Bahn nach Berlin nimmt. Also radelte er mit seiner Aktentasche mitten in der Nacht vierzig Kilometer durch den Wald zum Bahnhof Züssow. »Dann hab ich da das Fahrrad an einer Strohhütte abgestellt.« Der Jugendliche versteckte sich hinter einer Litfaßsäule, bis der Schaffner das bekannte »Einsteigen, Türen schließen!« rief. »Dann bin ich schnell hinter der Litfaßsäule raus, schnell eingestiegen, als der Zug dann schon in Fahrt war.« In Berlin-Bernau wollte er eigentlich aussteigen. »Aber da kam die NVA rein und einer stand mit der MP vor mir«, erinnert sich der Senior. »Da habe ich ihm die Papiere gezeigt«. Auf die Frage »Wo wollen Sie hin?« gab er an, eine Tante in Potsdam besuchen zu wollen. Der Mann sah ihn immer wieder an, sah seine 19 Jahre, stellte aber keine weiteren Fragen. »Der hat gewusst, dass ich einer war, der abhaute«, ist sich Klaus-Dieter Berger sicher. »Der hat mich einfach laufen lassen. Das sagten seine Augen.«
Jetzt war der junge Mann zu nervös, um auszusteigen, er fuhr durch bis zum Ostbahnhof, sah dort zwei Stasi-Leute in Lederjacken auf dem Bahnsteig hin und her gehen, hörte die Ansage: »Einsteigen, letzte Station im demokratischen Sektor«. Also raus aus dem D-Zug und rein in die S-Bahn. Die Zeit war so knapp, dass sich seine Aktentasche in der Tür einklemmte. »Wenn die das gesehen hätten …«, sagt Klaus-Dieter Berger. Doch die Stasi-Leute drehten ihm den Rücken zu. Die Bahn fuhr an, er fühlte sich wie gelähmt. An der dritten Station Marienfelde stieg er aus. »Ich hab mich hingesetzt an einem Kiosk und hab dort eine Bluna getrunken«, erinnert er sich. Der Kioskbesitzer hätte nur geguckt und gegrinst. »Die kannten sich ja aus, die wussten Bescheid.« Draußen fragte er einen Polizisten nach dem Weg zum Auffanglager. Später musste er dann noch zum amerikanischen, französischen und englischen Geheimdienst. »Überall wollten die etwas wissen. Aber die wussten mehr als ich wusste«, sagt Klaus-Dieter Berger. Nun war er im Westen.
»Ich hab auf der deutschen Reichsbahn gelernt, war also Maschinenschlosser. Dadurch hab ich auch leicht Arbeit gefunden«, erzählt er. Als Ingenieursassistent ist er zur See gefahren, schrieb seiner Mutter sicherheitshalber von Westindien aus.
Berger zog nach Kücknitz, seine Kinder kamen im Priwallkrankenhaus zur Welt. Heute wohnt er selbst mit seiner Frau auf der Travemünder Halbinsel. Und die Grenzöffnung Jahrzehnte nach seiner erfolgreichen Flucht liegt nun auch schon wieder dreißig Jahre zurück. TA