ORTSGESCHEHEN
Travemünde 16.09.2018
Gibt es ein Leben ohne Handy?
Jürgen Schmidt aus Travemünde wagt den Versuch
»Was ist denn das?«, dachte Jürgen Schmidt. Er war gerade von der Gassi-Runde mit Tibet Terrier -Mix »Sally« zurück, als er sein Handy wild blinkend auf dem Sofa liegen sah. Doch das Gerät gab nicht nur Lichtzeichen, es war auch »kochend heiß«, wie Schmidt sich erinnert. »Da habe ich es gleich erstmal auf den Balkon geschmissen, bevor die Wohnung noch abbrennt.« Das war am 1. Mai, der Tag an dem Real Madrid gegen Bayern München spielte. Und der letzte Tag, an dem der Fußballfan ein Handy in die Hand genommen hat.
Das teure Mobilgerät war unrettbar kaputt. Drei Monate, nachdem die Garantie abgelaufen war. »Mein Leben, mein Sprachrohr, mein Fotoalbum der letzten zwei Jahre waren auf einen Schlag weg«, sagt Jörgen Schmidt. Bis dahin war das Handy immer dabei, sogar zu den Mahlzeiten. »Das war so eine Macke. Ich hab sogar eine eigene WhatsApp-Gruppe gehabt mit Essensfotos«, erzählt der Travemünder. Mit ihm könne man nicht einmal normal essen gehen, hätte Partnerin Conny mal zu ihm gesagt. »Davon war sie echt genervt.«
Doch das kaputte Handy war nicht alles: Kurz zuvor war Schmidts Facebook-Konto gehackt worden, in seinem Namen wurden Nachrichten verschickt. Und der Travemünder stellte sich eine spannende Frage: »Wie lange kann ich wohl ohne Handy überleben in der heutigen Zeit?«
Familie und Freunde redeten auf ihn ein: Er sei ja nicht mehr in, nicht mehr erreichbar, weit weg für alle.
Ob er denn schon mal überlegt hätte, was er machen würde, wenn er sich im Wald verlaufe, wollte seine Tochter wissen. »Wann war ich das letzte Mal allein im Wald, und wenn hab ich da eh kein Netz«, antwortete Jürgen Schmidt. Und fing an, ganz Steinbock, Argumente für ein Leben ohne Handy zu sammeln. »Ohne Facebook, ohne WhatsApp, ohne SMS.« Er sei jetzt viel aufmerksamer, meint er etwa. Auf Bahnfahrten guckt er wieder aus dem Fenster und sieht die schöne Landschaft. »Ich merke, dass ich viel ruhiger geworden bin, ausgeglichener. Und das Schlafen fällt mir leichter, weil das Handy nicht mehr stündlich neben mir vibriert.«
Es gab aber auch Zuspruch, besonders von Arbeitskollegen, die ihren Kindern erzählt haben, dass es auch ohne Handy gehe. »Das ist ja auch gefährlich«, sagt Jürgen Schmidt und erzählt von einer jungen Frau, die am Gustav-Radbruch-Platz aus dem Bus gestiegen ist, nur aufs Handy geguckt hat und dabei quer über die Busspur gelaufen ist. Die Fahrgäste schrien, der Fahrer machte eine Vollbremsung. »Die gucken nur auf ihr Handy und dann rüber«, wundert sich Jürgen Schmidt.
Natürlich hat die Sache auch Nachteile: »Was schlimm ist, ist das mit der Uhrzeit. Ich bin ja nun kein Armbanduhren-Träger«, sagt der 55-jährige. Er orientiert sich nun an Kirchturmuhren und manchmal auch an Einkaufsbons. Aber da stimmen die aufgedruckten Uhrzeiten auch nicht immer. An der Apotheke dauert ihm die Anzeige zu lange, weil erst das Datum und dann die Temperatur gezeigt wird.
Und wenn er mal telefonieren muss? »Ich dachte es gibt keine Telefonzellen mehr«, erzählt Jürgen Schmidt. Aber allein auf dem Weg zur Arbeit gibt es drei Telefonsäulen. Die benutzt er. »Ich hab immer Kleingeld in der Tasche.« Die wichtigsten Telefonnummern hat er sich auf einen Zettel geschrieben, den er allerdings kaum noch braucht: »Die meisten kann ich jetzt schon auswendig.«
Er will niemanden belehren. Ohne Handy zu leben, sei seine Entscheidung. Aber: »Ich kanns nur jedem empfehlen, das mal eine gewisse Zeit lang zu machen, um die Welt mal wieder mit anderen Augen zu sehen.«
Ob er selbst dabei bleibt? »Man soll ja nie nie sagen«, meint Jürgen Schmidt. »Aber im Moment geht’s mir ohne echt besser. Du hast mehr Zeit für andere Sachen. Ich war ja ständig am Handy.«
Aber vielleicht kauft er sich jetzt eine Taschenuhr. TA