ORTSGESCHEHEN
Travemünde 01.02.2012
Die Baustellenguckerkultur
Von »Eine Liebe fürs Leben«, die Volker Hage in seinem gleichnamigen Buch Thomas Mann und Travemünde zuschreibt, hat es über die Jahrzehnte hinweg viele Gründe gegeben, Travemünde zu lieben, es zu besuchen und dort zu verweilen. Ob wir Travemünder und Lübecker wie auch unsere Gäste »Schiffe gucken« (manche sagen auch kucken) dem morgendlichen Spaziergang mit unserem Vierbeiner bevorzugen, oder ob das Kleinod Priwall die erste Wahl ist, es gibt seit einiger Zeit eine ganz neue Option.
Für die einen eher degoutant, für die anderen ein Eldorado einem ständigen Rätselraten gleich. Denn es gibt jede Menge Anreize, über alle möglichen Details Lübecks längster Baustelle zu spekulieren, was denn die Ingenieure und Handwerker mit dem Bauwerk so vorhaben: die Baustelle der neuen Strandpromenade.
Von »... also was das nun wieder werden soll ...« oder »... die werden ja nie fertig ...« oder »... das ist ja unmöglich, diese Lampe sitzt viel zu hoch ... » bis hin zu »... diesen Promenadensteg hätten sie ja mal gleich länger bauen sollen ...« jagen Gedanken dieser Art in den Köpfen hin und her.
Folge: es gibt für viele selbsternannte und auch tatsächliche Fachleute jede Menge Anstöße, sich geistig mit dem sich entwickelnden Werk auseinanderzusetzen. Hier kann der Spaziergänger seinen Verstand schärfen oder das Meckern auf hohem Niveau noch eine weitere Qualitätsstufe verbessern.
Wenn nun der so hochtrainierte Baustellengucker die Travepromenade seinen Weg zur Vorderreihe für die schöne Tasse Kaffee sucht, so befindet er sich auch auf dem Wege der geistigen Entspannung nach einem so herausfordernden Spaziergang.
Doch nichts kurbelt effektiver die mentale Spannkraft wieder an, wenn auf der unschuldigen Travepromenade vier weiß-rote Baustellenzäune im Karree stehen, fast promenadenmittig, welche eine so simple Vorrichtung wie eine Schachtabdeckung absperren. Genau an der Längskante auf den Kompasskurs von 85 Grad missweisend ausgerichtet, ist überhaupt nicht erkennbar, wozu das Ganze dienen soll. Keine Spuren von Arbeit, schlicht weg nichts, was einen Anfangsverdacht nähren könnte, wozu denn diese Einfriedung wohl sein soll.
Von »... die haben diese Baustelle doch glatt vergessen – typisch ...« bis hin zu »... für so einen Blödsinn ist Geld da ...« waren denn die immer sich häufiger einstellenden Anfragen bei Travemünde Aktuell. Selbst bei Vernissagen oder beim Einkauf waren die TA-Leute vor solchen bissigen Anfragen nicht sicher.
Da half nur eines: den Kurdirektor fragen, der muss es ja wissen, denn das ist ja seine Travepromenade. Alleine er wunderte sich auch schon über jenen Fremdkörper und schickte sich an, seinem dringenden Verdachte zu folgen, eine E-Mail an die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Lübeck zu senden.
Die Antwort kam prompt: »Die Absperrung dient der Verkehrssicherungspflicht für einen dort befindlichen Dükerschacht, der in meiner Objektverantwortung liegt. Die Absperrung wurde kurz vor Weihnachten letzten Jahres vorgenommen, da die Schachtwände stark brüchig sind und die Schachtabdeckung nicht mehr tragfähig aufliegt. Der Schacht kann ggf. nicht mehr die Verkehrsbelastung aus Personen und Kleingeräten (Winterdienst) sicher aufnehmen. Er wird sobald es die Witterung zulässt zeitnah instandgesetzt. Ich bitte Sie bisweilen um Ihr Verständnis für diese Beeinträchtigung und um Weitergabe des Sachverhaltes an Dritte.«
Was wir hiermit tun. Nun ist natürlich die Enttäuschung groß, dass das Ganze sich plötzlich so einfach aufgelöst hat. Da wird bald neu gemauert und dann ist die Travepromenade wieder so wie sie war. Doch wer glaubt, dass damit die geistige Anforderung für Baustellengucker um ein Detail ärmer geworden ist, den kann man trefflich trösten. Hier ist Verlass auf unsere Wasser- und Schifffahrtsverwaltung.
Ein Gang auf die Nordermole bietet reichlich Ersatzstoff. Doch was hier bald geschehen soll, könnte man sich ja schon denken. Aber die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung macht es spannend. Bald wird der Schleier auf einer extra Pressekonferenz gelüftet. Die Baustellenguckerkultur kann also weiter gepflegt werden. Sogar auf einem in maritimer Weise modifizierten Niveau. KEV
Alle Fotos: Karl Erhard Vögele