VERANSTALTUNGEN
Veranstaltungen 17.12.2010
Weihnachtsdrossel und Musik
Das war der Freitag auf dem St. Lorenz Weihnachtsmarkt

Für Samstag sollten alle Kinder schon mal einen Besuch einplanen: Von 15:00-17:00 Uhr singen der Passat-Chor und der Gemischte Chor der Travemünder Liedertafel. Und dazwischen, also wohl so gegen 16 Uhr, kommt der Weihnachtsmann auf den Markt und verteilt kleine Geschenke. TA
von Helge Normann
I. Da fehlt doch was im Weihnachtsbaum
Papa stand mitten in der Stube, guckte sich den Weihnachtsbaum an und rieb sich nachdenklich das Kinn.
»So, so«, sagte Papa.
Julia hatte schon vorher gewusst, dass er sich gleich das Kinn reiben würde. Das tat Papa immer, wenn sie den Weihnachtsbaum fertig geschmückt hatte. Und »So, so«, sagte er dauernd, nicht nur an Weihnachten.
Das war so eine Papa-Macke mit dem »So, so«. Mama rollte dann immer mit den Augen, weil sie das ein bisschen nervte. Aber man konnte Papa das »So, so« nicht austreiben. Auch Mama nicht.
Im Augenblick stand Mama in der Küche. Julia konnte sie vom Wohnzimmer aus nicht sehen. Nur hören, dass sie Tee aufsetzte. Aber sie war sicher, dass Mama jetzt grade mit den Augen rollte.
»So, so«, sagte Papa.
Julia wusste, dass Papa sie gleich loben würde, weil sie den Baum so schön geschmückt hatte. Mit silbernen Kugeln, weißen Kerzen und selbst gebastelten Strohsternen aus dem Kindergarten.
»So, so, den Baum hast du diesmal aber besonders schön geschmückt«, sagte Papa.
Julia wusste das alles, weil Papa das jedes Mal sagte. Jedes Weihnachten. Sei Jaaaahren. Jedenfalls seit fünf Jahren. So alt war Julia jetzt. Was Papa vorher gemacht hatte wenn der Baum fertig geschmückt war, das wusste sie natürlich nicht.
Vielleicht hatte Jannik früher den Baum geschmückt, als Julia noch nicht da war. Jannik war Julias großer Bruder. Jannik war elf und ging aufs Gymnasium. Aber davon merkte man nichts.
Ob Papa zu Jannik auch immer gesagt hatte, dass da noch was fehlt? Und so getan hatte, als ob er nicht wüsste, was. Obwohl er genau wusste, was. Aber er tat immer so, als ob er noch ganz viel überlegen müsste.
»Da fehlt noch was«, sagte Papa jetzt. »Hmm, hmm, da fehlt noch was. Wenn ich nur wüsste, was da noch fehlt an deinem Baum. So, so.«
Julia stellte sich vor, wie Mama in der Küche mit den Augen rollte. Dann hörte sie den Teekessel pfeifen. Jetzt würde Mama gleich ins Wohnzimmer kommen mit dem Tee und Keksen und mit Kakao und den bunten Zuckerkringeln, die Papa so gern mochte. Die aus Schokolade mit den bunten Perlen drauf.
Zeit für Papas nächsten Auftritt: Bestimmt schnipst er gleich mit den Fingern, dachte Julia. Und tut dann so, als ob ihm grade eben was eingefallen wäre. Das machte Papa immer so.
SCHNIPS!, machte es jetzt.
»Ich hab’s!«, rief Papa. »So so, ich hab’s!«.
Mama kam mit dem Tee und den Keksen ins Wohnzimmer und rollte mit den Augen.
»Genau das hab ich gesucht«, sagte Papa und schnappte sich einen Zuckerkringel vom Teller, noch ehe Mama den abgestellt hatte.
»Ein Weihnachtsbaum ohne Zuckerkringel, das ist ja wohl nichts«, meinte Papa und suchte im Baum eine Stelle, wo er den Kringel anbringen konnte. Aber dann sah er sich den Kringel noch mal genauer an. »Nein, der ist nicht richtig«, meinte Papa, steckte sich den Kringel in den Mund und nahm sich einen neuen.
Julia wusste, was jetzt kommt.
»Nein, der ist auch nicht richtig«, meinte Papa und steckte sich den nächsten Kringel auch in den Mund.
Julia wusste, das macht er jetzt so lange, bis er so ungefähr zehn Zuckerkringel im Mund hatte. Mehr passten bei Papa nicht rein. Ungefähr zehn war der Rekord. Julia schaffte höchstens zwei. Jannnik schaffte acht, aber dann wurde ihm immer schlecht von dem vielen Zuckerzeug.
»Door hör isch rischtig«, meinte Papa jetzt mit vollen Backen, zog ein Stück Geschenkband durch den Kringel und hängte ihn in den Weihnachtsbaum.
»Schooo, Schoo, dör isch rischtig«, sagte Papa.
Mama rollte mit den Augen.
»Mir ist schlecht«, sagte Jannik.
Papa setzte sich zu den anderen aufs Sofa und guckte sich zufrieden den Tannenbaum an: Silberne Kugeln, weiße Kerzen, ein paar Strohsterne aus dem Kindergarten und ein Zuckerkringel hingen daran.
Julia wusste, dass Papa sich jetzt einen Tee und noch einen Zuckerkringel nehmen würde. Dass er noch mal »So, so« sagen und dann von der kleinen blauen Weihnachtsdrossel erzählen würde.
II. Papa erzählt von der Weihnachtsdrossel
»Ihr wollt also die Geschichte von der kleinen blauen Weihnachtsdrossel hören, so, so«, sagte Papa.
Mama rollte mit den Augen. Sie konnte das nicht ab, wenn Papa immer »So, so«, sagte.
Natürlich hatte keiner etwas davon gesagt, dass Papa die Geschichte erzählen sollte. Das machte er sowieso, jedes Jahr am Tag vor Heiligabend, wenn der Weihnachtsbaum fertig geschmückt war und alle beim Tee zusammensaßen. Die Kinder Julia und Jannik wussten das schon vorher, Papa machte das immer so. Auch dieses Jahr. Keiner sagte etwas dazu. Nur Mama erklärte, dass es beim nächsten »So, so« ein Donnerwetter geben werde, Weihnachten hin oder her.
»So,... hrrrmpf«, sagte Papa. Sein zweites »So« konnte er grade noch runterschlucken. Schnell stand er auf, schnappte sich die Streichhölzer vom Wohnzimmertisch und zündete die Kerzen am Baum an. Außer Reichweite von Mama und einem möglichen Donnerwetter, sollte ihm doch noch mal ein »So, so« entfahren. Nach und nach tauchten die Kerzen das Wohnzimmer in ein warmes, flackerndes Licht, und Papa fing an zu erzählen.
»Die Weihnachtsdrossel ist ein kleiner blauer Vogel, der nur in Weihnachtsbäumen lebt«, erklärte Papa.
»Nur in Weihnachtsbäumen?«, fragte Jannik.
»Ja«, sagte Papa, »So ist es«.
»Und was frisst die Weihnachtsdrossel dann? An Weihnachtsbäumen wachsen ja wohl keine Regenwürmer!«.
»Igitt«, sagte Julia und schüttelte sich bei der Vorstellung.
»Na, was soll eine Weihnachtsdrossel schon fressen, Zuckerkringel natürlich«, antwortete Papa. »Meisen fressen Meisenkringel, und Weihnachtsdrosseln fressen Zuckerkringel. Darum hängt man ja auch Zuckerkringel in den Weihnachtsbaum und keine Meisenkringel. Was lernt ihr bloß auf dem Gymnasium?«
Das fragte Julia sich auch.
»Wo wohnt denn die Weihnachtsdrossel wenn kein Weihnachten ist?«, fragte Jannik jetzt. »Du tüdelst uns doch wieder an mit deinen Geschichten!«
Papa schüttelte den Kopf: »Würde mir doch im Traum nicht einfallen! Hab ich Euch schon jemals angetüdelt?«
»Klar, jeden Tag!«, sagte Jannik. »Aber ich merk das immer, das klappt bei mir nicht.«
Julia wusste, dass es doch recht oft klappt. Man konnte bei Papa nie wissen, wann er tüdelte und wann nicht.
»So....«, fing Papa an. Man konnte hören, wie Mama tief einatmete und die Luft anhielt. »Sooonderbar«, sagte Papa. »Du glaubst also die Sache mit der Weihnachtsdrossel nicht?«
»Nein«, sagte Jannik und verschränkte die Arme.
»Und du?«, fragte Papa Julia.
»Ein bisschen nicht«, sagte Julia.
Papa lächelte: »Dann soll ich euch jetzt also auch nicht weiter erzählen, was es mit diesem besonderen Vogel auf sich hat?«
Julia zögerte kurz. »Doch«, sagte sie dann.
Natürlich kannten Julia und Jannik die Geschichte von der Weihnachtsdrossel In- und Auswendig. Aber welches Kind auf der Welt würde schon »nein« sagen, wenn eine Geschichte erzählt werden soll. Egal wie oft es sie schon gehört hat.
»Erzähl schon…«, sagte Jannik und gähnte dabei ein bisschen, als würde ihn das alles nicht wirklich interessieren.
»Also«, fing Papa an: »Die Weihnachtsdrossel ist ein kleiner blauer Vogel, der nur in Weihnachtsbäumen lebt«.
»Das hast Du doch schon erzählt«, sagte Julia.
»Ja«, sagte Papa. »Nun lasst mich doch. Also die Weihnachtsdrossel sitzt da den ganzen Tag zwischen den Strohsternen und Tannenbaumkugeln und den Kerzen. Zwischen all dem Schmuck sieht man sie natürlich nicht so leicht«.
Julia ging zum Weihnachtsbaum, guckte vorsichtig hinter jede Kugel, hinter jeden Weihnachtsstern und hinter jede Kerze. Keine Weihnachtsdrossel. »Ich seh keine!«, sagte sie.
»Hab ich doch gleich gesagt. Es gibt keine Weihnachtsdrossel«, sagte Jannik, der auf dem Sofa sitzen geblieben war.
»So, so«, sagte Papa. »Und wer hat da gerade >>Oh Tannebaum<< gepfiffen? Das war doch wohl eindeutig eine Weihnachtsdrossel!«.
Julia spitze die Ohren. Tatsächlich war da ein leises Pfeifen zu hören, das ein bisschen wie das Weihnachtslied »Oh Tannebaum« klang.
Allerdings hatte Papa auch die Hand vorm Mund. Man konnte trotzdem sehen, dass er die Lippen gespitzt hatte.
»Du hast gepfiffen!«, sagte Jannik und zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf Papa.
Der lachte. »Na, da hast Du mich jetzt aber erwischt. Dir kann man wirklich nichts vormachen!«
»Genau, also lass den Unsinn«, sagte Jannik.
Papa machte sich auf den Weg in die Küche, weil ihm die Zuckerkringel ausgegangen waren. »Wobei, vielleicht hab ich ja nur gepfiffen, um die Weihnachtsdrossel anzulocken«, sagte er noch beim Hinausgehen.
Julia stand immer noch vorm Weihnachtsbaum. Morgen war Weihnachten, daran musste sie den ganzen Tag denken. Unterm Weihnachtsbaum würden dann die bunten Pakete mit den Geschenken liegen. Wie schön es jetzt am Abend aussah, wenn die Kerzen flackerten. Wenn sich das Licht in den Kugeln spiegelte. Da konnte man tatsächlich glauben, dass ein kleiner blauer Vogel zwischen den Ästen herumhüpfte.
Auf einmal bewegte sich ein Zweig im Weihnachtsbaum, und dann hörte sie ganz deutlich, wie jemand die Melodie von »Oh Tannebaum« pfiff. Aus der Küche kam das nicht.
Sie drehte sich um, aber Jannik und Mama hatten nichts bemerkt. Vielleicht gibt’s ja doch so eine kleine blaue Drossel, dachte Julia bei sich. Viele seltsame Sachen passieren ja gerade zur Weihnachtszeit.
III. Jannik baut eine Falle
Julia wusste natürlich, warum Papa immer einen Weihnachtskringel mit Zuckerperlen in den Tannenbaum hängte. Damit die kleine blaue Weihnachtsdrossel etwas zu fressen hat. Weihnachtsdrosseln fressen die Zuckerperlen von den Kringeln, behauptete Papa immer. Julia wusste das. Aber Papa tat immer so, als wenn keiner die Geschichte kennt.
»So, so, das kommt Dir wohl sonderbar vor mit dem einen Kringel im Baum?«, fragte Papa, als er wieder mal mit einer neuen Tüte Kringel aas der Küche kam.
»Eigentlich nicht«, sagte Julia.
Aber Papa erzählte trotzdem, das machte er immer so.
»Nun, zum Einen muss die kleine blaue Weihnachtsdrossel ja was fressen«, erklärte Papa.
Julia wusste natürlich, dass Papa die meisten Kringel selbst aufaß, weil er sie so gern mochte.
»Außerdem sieht man am Kringel, dass die Drossel da ist«, sagte Papa. »Sie knabbert nämlich immer eine Stückchen ab, wenn man grad nicht hinguckt. Man sieht dann aber, wenn sich der Kringel noch ein bisschen im Baum dreht. Dann hat sie grad was weggepflückt.«
Julia und Jannik beobachteten jetzt ganz scharf den Zuckerkringel im Baum, bestimmt fünf Minuten lang. Aber er bewegte sich aber kein Stück.
»Der bewegt sich kein Stück, da ist kein Vogel«, sagte Jannik.
»So, ssss..., ähm«, sagte Papa, als er Mamas Blick sah. Fast hätte er wieder »So, So...« gesagt, aber das nervte Mama und darum tat er es nicht. »Ich meine, sooo einfach ist das nicht. Nur wenn man unauffällig aus den Augenwinkeln guckt, so dass die Weihnachtsdrossel denkt, es schaut grad keiner hin. Dann wagt sie sich ein Stück vor in den Tannenzweigen und nascht vom Zuckerkringel.«
Julia und Jannik versuchte, aus den Augenwinkeln zu gucken.
»Ich sehe nix«, sagte Julia.
»Ihr müsst noch mehr weggucken«, sagte Papa.
Die beiden drehten die Köpfe noch mehr, jetzt konnten sie den Baum gar nicht mehr sehen.
»Seht ihr!«, rief Papa jetzt.
Julia und Jannik drehten sich um. Aus dem Zuckerkringel war ein großes Stück herausgebissen, der Rest drehte sich im Baum.
Allerdings kaute Papa auch auf irgendwas.
»Die Weihnachtsdrossel will halt beim Essen nicht beobachtet werden«, sagte Papa.
»Die Weihnachtsdrossel ist ja wohl ein ganz schlaues Tier«, meinte Jannik.
Im Gegensatz zu Dir, dachte Julia. Aber sie sagte lieber nichts. Wenn sich Geschwister am Abend vor Weihnachten streiten, schmeißt der Weihnachtsmann den Sack mit den Geschenken nicht in den Kamin, sondern ins Klo. Hatte Papa jedenfalls erzählt. Julia wollte lieber nichts riskieren.
»Noch niemals hat jemand die kleine blaue Weihnachtsdrossel wirklich gesehen«, sagte Papa. »Aber das heißt ja nicht, dass es sie nicht gibt. Es hat ja auch noch nie jemand den echten Weihnachtsmann gesehen.«
»Den gibt’s ja auch nicht«, meinte Jannik.
»Natürlich gibt es den Weihnachtsmann!«, sagte Julia. »Wer bringt denn sonst die Geschenke?«. Und so einer ging aufs Gymnasium. Nicht zu fassen.
»Den Weihnachtsmann gibt es. Und die Weihnachtsdrossel gibt es vielleicht«, sagte Julia noch einmal.
»Das wird ja herauszufinden sein«, meinte Jannik.
Als Jannik das sagte, da wusste Julia gleich, er hat etwas im Sinn. Sie wusste auch schon, was: Er würde eine Falle bauen und versuchen, die Weihnachtsdrossel zu fangen.
Spät am Abend, als Julia schon lange im Bett lag, hörte sie eine Tür knarzen. So wie Janniks Zimmertür gegenüber immer knarzte. Dann hörte sie leise Schritte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo der Weihnachtsbaum stand. Bestimmt hängt Jannik jetzt seine Falle in den Weihnachtsbaum, dachte Julia. Sie drehte sich um und versuchte zu schlafen.
IV. Am Weihnachtsmorgen
In der Nacht musste Julia immer wieder an die kleine blaue Weihnachtsdrossel denken. Den seltsamen Vogel, der nur in Weihnachtsbäumen lebt. Natürlich gibt es so ein Tier nicht, das wusste Julia. Das war so eine Papa-Geschichte. Papa veräppelte gern Leute mit irgendwelchen Geschichten. Kinder ganz besonders. Trotzdem konnte Julia nicht schlafen.
Am Weihnachtsmorgen stand sie lange vor allen andern auf und ging runter ins Wohnzimmer. Es war noch nicht richtig hell, aber Julia entdeckte im Weihnachtsbaum sofort die Falle aus Pappe, die ihr Bruder Jannik am Abend zuvor in den Baum gehängt hatte. Die Klappe der Falle war geschlossen. Julia fühlte, wie ihr Herz doller schlug. Vorsichtig trat sie näher und versuchte, durch eines der Luftlöcher zu gucken, die Jannik oben in die Papp-Falle hineingebohrt hatte. Die Falle ruckte von selbst ein wenig hin und her, Julia erschrak und machte einen Satz zurück.
Mit klopfendem Herzen stand sie mitten im halbdunklen Wohnzimmer. Ganz leise hörte sie ein Pfeifen, es klang wie »Oh Tannebaum«.
Julia trat näher an den Weihnachtsbaum heran und versuchte, noch einmal durch die Luftlöcher zu gucken. Sie sah aber nichts. Die Schachtel-Falle bewegte sich auch nicht mehr und es war auch kein »Oh Tannebaum«-Pfeifen mehr zu hören.
Julia rüttelte ein wenig an der Schachtel-Falle. Nichts.
Sie rüttelte etwas doller. Irgendwas raschelte. Wahrscheinlich der Zuckerkringel, den Jannik als Köder hineingetan hatte.
Vorsichtig klappte Julia die Tür an der Seite der Schachtel-Falle hoch. Irgendetwas kam pfeilschnell herausgeschossen und verschwand im Weihnachtsbaum. Julia setzte sich vor Schreck auf den Hosenboden.
Als sie sich wieder beruhigt hatte, stand sie auf und guckte in die Schachtel-Falle. Ein halb aufgefressener Zuckerkringel lag darin. Und ein kleine blaue Feder. Die Feder steckte sie in die Hosentasche. Julia guckte in den Weihnachtsbaum. Sie spitzte die Lippen und versuchte, die ersten Töne aus »Oh Tannebaum« zu Pfeifen.
Irgendetwas pfiff zurück. Oh Tannebaum. Es klang wie eine Vogelstimme.
Julia brach ein paar Perlen von dem Zuckerkringel, balancierte sie auf ihrem ausgereckten Zeigefinger, den sie vorsichtig ein bisschen in den Weihnachtsbaum hielt.
Ein kleiner blauer Vogel kam herausgeflogen, setzte sich auf ihren Finger und pickte die Zuckerkrümel ab. Fast hätte Julia sich wieder auf den Hosenboden gesetzt.
Die Weihnachtsdrossel flog nun im Wohnzimmer umher, setzte sich mal auf Julias Schulter, drehte mal eine Runde um den Tannenbaum und naschte von den Zuckerkringeln, die darin hingen.
Als Schritte auf der Treppe zu hören waren, verschwand die Drossel wie der Blitz im Baum. Julia legte schnell einen frischen Zuckerkringel in die Schachtelfalle, die Falltür ließ sie offen stehen. Da erschien auch schon Jannik im Wohnzimmer.
Jannik nahm die Schachtelfalle aus dem Baum und kippte sie, der Zuckerkringel landete in seiner Hand und dann in seinem Mund.
»Siehst Du, es gibt keine Weihnachtsdrossel«, sagte er kauend. Sonst säße sie ja jetzt in meiner Falle.
»Hast wohl recht«, sagte Julia. Es fiel ihr nicht leicht, ihrem Bruder recht zu geben. Soweit sie sich erinnern konnte, war es überhaupt das erste Mal, dass sie ihm recht gab. Aber sie wollte das Geheimnis der Weihnachtsdrossel nicht verraten. Und sie wollte auf keinen Fall, dass Jannik herausbekam, dass sie seine Falle aufgemacht hatte. Dann würde es sicher einen Streit mit ihrem Bruder geben und der Weihnachtsmann würde alle Geschenke ins Klo spülen.
»So, so, ihr seid ja schon alle beide wach«, sagte Papa, als er die Treppe herunterkam. Mama kam hinterher und rollte mit den Augen, weil das mit Papas »So, so«-Macke schon am frühen Morgen losging. Und das nervte sie.
»So, so, ihr könnt es sicher gar nicht abwarten, eure Geschenke auszupacken«, sagte Papa. Julia und Jannik packten nun ihre Geschenke aus. Sie spielten damit, aber Julia war nicht ganz bei der Sache.
Am nächsten Morgen war sie wieder als erste auf. Diesmal brauchte sie nur kurz »Oh Tannebaum« zu pfeifen, und schon war die Weihnachtsdrossel da. So ging das jeden Weihnachtstag und die Tage danach.
Es passte Julia gar nicht, als Mama schließlich den Weihnachtsbaum abschmückte. Zusammen mit Papa brauchte sie die Tanne, die nun schon braune Nadeln hatte, an den Straßenrand. Da wo schon andere Weihnachtsbäume lagen und auf die Müllabfuhr warteten.
Julia zog Papa am Ärmel: »Wo wohnt denn nun die Weihnachtsdrossel, wenn kein Weihnachtsbaum da ist?«
»So, so«, sagte Papa, »da glaubt wohl eine kleine Dame doch an die Weihnachtsdrossel«.
»Ich hab sie sogar gesehen«, sagte Julia. Sie konnte es einfach nicht mehr für sich behalten. Und sie wollte unbedingt wissen, wo die Drossel jetzt war.
»So, so, gesehen hast Du sie«, meinte Papa. Gut, dass Mama nicht in der Nähe war. So oft wie Papa grade »So, so...« sagte, käme sie aus dem Augenrollen gar nicht mehr heraus.
Papa pochte mit dem langen Zeigefinger Julia zweimal an die Stirn: »Da wohnt die Weihnachtsdrossel, in Deinen Kinderträumen«, sagte Papa.
Julia wollte etwas antworten, aber Papa drehte sich um, als wenn er aus dem Augenwinkel heraus etwas gesehen hätte. Er ging in die Knie und guckte sich den Weihnachtsbaum, der da am Straßenrand lag, noch einmal genau an.
»Ha, da bist Du ja!!!«, rief Papa plötzlich hocherfreut und hob einen der Zweige an.
Julias Herz pochte wieder schneller. »Die Weihnachtsdrossel?«, fragte sie ganz aufgeregt.
»Nein, sagt Papa. Besser! Da hängt noch ein Zuckerkringel.«
Julia war enttäuscht.
Doch da raschelte es im Baum, gerade als Papa nach dem Kringel greifen wollte. Irgendetwas zwickte ihn in den Finger.
»Autsch«, sagte Papa. »Da hab ich mich wohl an einer Nadel gepiekt«.
Aber es war keine Tannenbaumnadel. Sondern ein kleiner blauer Vogel, der mit dem Zuckerkringel im Schnabel herausgeschossen kam und davonflog. Trotz Kringel im Schnabel brachte das Tier es dabei irgendwie fertig, auch noch »Oh Tannebaum« zu pfeifen.
»Das ist ja wohl nicht zu fassen«, sagte Papa, der aufstand und sich seinen Finger rieb.
»Dass es die Weihnachtsdrossel wirklich gibt?«, fragte Julia. »Hab ich doch gesagt.«
»Das ist nur sehr, sehr seltsam«, sagte Papa.
»Nicht zu fassen ist, dass die mit meinem Zuckerkringel abhaut. Das war der allerletzte, und es gibt erst nächstes Jahr wieder welche.«
Julia fragte sich, ob Papa seine Drossel-Geschichte trotzdem nächstes Jahr wieder erzählen würde. Sie hoffte es.
ENDE