KUNST & KULTUR
Travemünde 11.10.2015
Jess Jochimsen im Travemünder Kulturbahnhof
Der kabarettistische Philosoph und der poetische Kabarettist
Er ist ein Mann der leisen Töne oder wie er sich selbst mit einem Zitat aus der taz ankündigt, ein »wütendes Kabarett der leisen Töne.« Und wer zu seinen leisen Tönen für mundartliches Pianissimo und Legato auch noch die Ohren offen hat, der merkt sehr schnell, dass der Meister der kabarettistischen Kunst aus dem Süden kommt. Nicht nur der Sprache wegen ist dies zu erwähnen, sondern wegen der Eigenart dieser Menschen nördlich von Afrika aber südlich des Mains.
Sie haben einen Hang, die Welt bei ihrem Tun mit kleinem fast unmerklichem philosophischem verbalem, gelegentlich poetischem Beiwerk zu versorgen. Jess Jochimsen zeigt, wie man dieses auch noch kabarettistisch verwurstelt. Seine Einführung in den »schönen Abend«, den er mit seinem Publikum gemeinsam erleben will, entwickelt sich kaum merklich, doch er kommt dann schlagartig zur Sache. Er nimmt Menschen aufs Korn, die selbst nach einem Atomschlag einem Radfahrer noch bedeuten, dass er gegen die Einbahnstraße fährt. Er zitiert den Typ des hausmeisterlichen Zurechtweisers. Oder er wettert gegen die Laubbläser als er zugleich unter Hinweis auf unsere heutige Zeit, wonach Fortschritt immer nur mit Lärm verknüpft sei, heftigen Beifall erhält.
Die Welt könnte schön sein, meint er, wäre da nicht der Mitmensch, der in einer Tour herumfuhrwerkt und seine Ansichten unangenehm und ohne Unterlass in seine Umgebung krakeelt. Er zerpflückt den 2-Wortebeitrag einer Mutter, die sich als Typ der leistungsoptimierenden Erzieherin auf einem Elternabend outet, wohl animiert durch den Leitartikel des letzten SPIEGEL »Operation Wunderkind«, er wettert gegen den Beratersprech »Ich bin ganz bei Ihnen«, statt dass dieser es einfach in menschlichen Worten sagt »ich bin ihrer Meinung« und er flicht den verbalen Modeknüller »supi« so ganz unmerklich ein, ohne ihn zu kommentieren.
Er meint halt, dass sein Publikum in der Lage ist, auch feinsinnig gesetzte Pointen nach einer kleinen Schaltpause im Hirn ohne didaktische Hilfestellung zu entschlüsseln. Er singt Lieder zu seiner Gitarre und Quetsche, die nachdenklich machen. Als bisher einziger Kabarettist im Kulturbahnhof zeigt er selbsterklärende hanebüchene Dias aus deutschen Großstädten und damit entlässt sein Publikum dann in die Pause. Bis zum Schluss zieht der seinen roten kabarettistischen Faden durch und wettert egal ob in Politik, Medien oder Nachbarschaft gegen Bescheidwisser, Radaumacher, Leistungslärm und Modesprechs. Man erlebt, wofür er oft ausgezeichnet wurde: er ist poetisch, philosophierend, genau und anrührend. Ein Kabarettabend im Kulturbahnhof mit Nachdenklichkeitswirkung. PM/KEV
Alle Fotos Karl Erhard Vögele