Travemünde/Lübeck 31.12.2007
»Zwischen den Jahren«
Silvester-Hörspiel von Dieter Kenn (OK Lübeck)
Dieter Kenn produziert für den Offenen Kanal Lübeck (98,8 MHz oder 106,5 MHz im Kabelnetz Travemünde) Hörspiele und Hörbücher. Darunter die Silvester-Geschichte »Zwischen den Jahren«, die wir hier mit freundlicher Genehmigung des Autors als Lese- und Hörbeitrag veröffentlichen.
Zwischen den Jahren
von Dieter Kenn
Das Jahr neigte sich dem Ende entgegen, endgültig. Wiederum stand ihm eine Zeit zwischen den Feiertagen bevor, wie er sie schon mehr als fünfzig Mal hinter sich gebracht hatte. Diesmal würde er die Tage alleine verbringen.
Er haßte diese Feiertage, weil ihm vieles daran so künstlich, so aufgesetzt erschien. Immer mußte man sich den Vorstellungen anderer unterordnen. Zu einem Termin mußte man sich froh, übertrieben froh geben, zu einem anderen Termin mußte man Nachdenklichkeit und Betroffenheit zeigen. Nach über fünfzig solcher Veranstaltungen wollte er alleine sein, er wollte dann an etwas zurückdenken, an das er sich erinnern wollte und nicht die anderen; er wollte sich freuen worüber er sich freuen wollte, nicht worüber andere meinten, er schulde es ihnen.
Er stand am Fenster und schaute hinaus. Er sah über die Stadt mit ihren vielen Lichtern, er sah auf das Meer, das ganz ruhig dalag, das seltsam kalt das Mondlicht widerspiegelte, er sah die Insel mit ihren Lichtern, er sah die Lichter der zwei Leuchttürme, die in ihrem vorgeschriebenen Rhythmus aufblinkten.
Er schaute auf die Uhr. Es blieb noch eine Minute, bis er auch dieses Jahr hinter sich gebracht haben würde. Für ihn war es kein gutes Jahr gewesen, wie manches Jahre davor auch. Er hatte das Gefühl als würden die Jahre immer schwieriger, immer kürzer, und als freue er sich jedes Mal mehr, ein solches Jahr hinter sich zu bringen.
Er wußte nicht, wie er sich das neue Jahr vorstellen sollte. Er hatte das Gefühl als gebe es kaum mehr Höhepunkte, sondern als dämmere alles so vor sich hin. Es war ihm, als laufe alles langsam und leise aus, endgültig und für immer. So wie eine Flasche, deren Korken undicht ist. In die einmal ein guter Wein gefüllt worden war, der dann durch Luftzutritt gekippt war und durch die Undichtigkeit langsam verdunstete.
Er schaute auf die Uhr, noch zehn Sekunden und das alte Jahr war vorbei. Mit dem Sekundenzeiger zählte er mit: zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Da passierte es: Der Sekundenzeiger blieb stehen, genau in der allerletzten Sekunde zwischen den Jahren. Er schaute nach den Lichtern der Leuchttürme, der eine blieb permanent dunkel, der andere war in Dauerlicht, so als habe beide dieser Stillstand der Zeit ganz unerwartet getroffen auf verschiedenen Positionen ihres Rhythmus. Er schaute auf die Stadt, wo blieben nur die einzelnen vorzeitigen Raketen, wie in allen Jahren davor auch? Keine einzige Rakete war zu sehen. Die letzte Sekunde des alten Jahres musste schon lange abgelaufen sein. Er spürte eine seltsam eisige Ruhe, als sei alles eingefroren, besonders die Zeit.
Ihn befiel Angst, sollte so alles zu Ende gegangen sein, genau in der allerletzten Sekunde eines Jahres, das man gerne hinter sich gebracht hätte, und ausgerechnet diese allerletzte Sekunde schaffe man nicht mehr? An dieser letzten Sekunde sollte alles gescheitert sein? Warum, wozu?
Er wartete auf die Raketen, die nicht kamen. Er schaute aufs Meer, das Mondlicht spiegelte sich im Wasser, kalt und eingefroren.
Panik befiel ihn, während er sich bewegen konnte, schien alles andere fest, unbeweglich. Der intensive Wunsch, dieses zu überleben, befiel ihn.
Sollte er irgend etwas getan haben im abgelaufenen Jahr, daß ihm sein Schicksal dies alles vorspielen mußte? Was sollte er daraus entnehmen, wie das deuten?
Er schaute auf den mitlaufenden Fernseher. Die Uhr stand, der Sekundenzeiger eine Sekunde vor einem neuen Jahr. Unwillkürlich kam ihm der Vergleich mit seinem Computer der sich aufgehängt hatte und nichts ging mehr. Sollte sich auch die Zeit so simpel aufhängen können? Bei seinem Computer konnte man den Netzstecker ziehen und wieder einstecken, und die Maschine konnte dann neu gestartet werden. Sollte er hier den Fall erleben, daß die Zeit sich aufgehängt hatte, und wo bitte war denn in einem solchen Fall dieser »Netzstecker«, den man ziehen mußte? Man durfte doch das alte Jahr so nicht einfach stehen lassen. Er überlegte, und dann wurde ihm klar, daß er nur einem dummen Vergleich nachging. Und ihm wurde bewußt, daß ihm keine Möglichkeit gegeben war, um dies zu ändern.
Ihm rasten die Gedanken: was er alles besser machen wollte, wovon er sich nicht mehr so beeindrucken lassen wollte. Ihm wurde schmerzlich bewußt, in welche Bahn er sich begeben hatte. Ihm wurde bewußt, in welcher Sackgasse er offensichtlich festsaß. Er hatte den Wunsch, dies alles noch einmal zu ändern. Den Wunsch das Steuer noch einmal mit einer gewaltigen Anstrengung herumzureißen. Aber wie, wie in diesem System, in dem offensichtlich alles zum Stillstand gekommen war. Wie konnte man ein solches System nur anschieben?
Ohne Nachzudenken, fast mechanisch griff er seine Seenotrakete, die er sich zurechtgelegt hatte, und trat hinaus auf den Balkon.
Dann hob er die Pistole und drückte ab. Er hörte das Zischen, er wartete. Dann ging hoch am Himmel dieses rote Licht an. Es begann die ganze Umgebung in dieses leuchtende Rot zu tauchen. Er wußte, daß diese Rakete an einem Fallschirm hing, er sah sie langsam, ganz langsam schweben. Er dachte, daß der Name Seenotrakete eigentlich falsch war, es müßte besser Seelennotrakete heißen.
Da ging das Feuerwerk los. Überall stiegen die Raketen in den Himmel. Die bunten Sterne erschienen überall. Die Böller knallten.
Überall aber standen am Himmel diese Seelennotraketen, von Seglern hochgeschossen, das neue Jahr freudig zu begrüßen. Sie tauchten die Stadt, das Meer und die Insel in dieses dauernde, intensiv leuchtende Rot. Die Kirchenglocken setzten ein, und in einem freudigen Geläut begrüßten sie das neue Jahr.
Er schaute auf seine Uhr. Das neue Jahr war schon drei Minuten alt. Hoffentlich würde es ein gutes Jahr!
ENDE